Die neue Realität des Coronavirus

von Thomas Schuster

Unter klinischen Psychologen gilt es als Leiden, das man aus den Patienten heraus therapieren müsse. Oft, so das Krankheitsbild, bleibe es nicht nur beim Waschen der Hände. Manchmal müsse der Patient sogar die gesamte Wohnung desinfizieren, um ihr zu begegnen: der Angst vor Infektionen.

Von dieser Zwangsstörung besonders schwer Betroffene zeigen, laut Meinung bestimmter Psychologen, weitere bedenkliche Symptome. Manche verspürten ein erhöhtes Verantwortungsgefühl auch für ihre Mitmenschen. Andere litten sogar unter Schuldgefühlen aufgrund der Angst, sie könnten Menschen, die ihnen nahe stehen, mit Krankheiten anstecken.

Solch krankhaften Vorgängen könne man durch eine Therapie begegnen. Einzelne Psychotherapeuten versprechen sogar, dass sie Patienten die Neigung zu Zwangshandlungen wie übermäßigem Händewaschen oder übertriebenem Verantwortungsgefühl in nur einem Tag austreiben können.

Doch wo genau verläuft die Grenze zwischen Zwangsgedanken, die auf inhaltlichen Denkstörungen basieren, und Ängsten, die vielleicht auch in übertriebenes Verhalten münden, doch rational nachvollziehbar und in der Realität begründet sind?

Fast überall und unbemerkt

Rund 80 Prozent der Coronavirus-Patienten, so neue Zahlen aus China, ziehen sich das Virus von Personen zu, die sie nicht kennen. Vier von fünf Personen werden also von Fremden angesteckt. Solche und ähnliche Zahlen deuten darauf hin, dass die bislang als verzerrt geltende Wahrnehmung, man könne sich fast überall infizieren, unter den veränderten Bedingungen der Corona-Seuche angemessen ist.

Das Coronavirus, so eine Serie von aktuellen Studien, scheint länger infektiös zu sein als Pathogene derselben Familie wie Sars. Forscher gehen momentan davon aus, dass mit SARS-CoV-2, dem neuen Coronavirus, infizierte Personen die Viruspartikel für einen relativ langen Zeitraum von 20 Tagen ausscheiden können.

Selbst Haustiere sind vor dem neuen Virus nicht gefeit: In Hong Kong wurde mittlerweile ein zweiter Verdachtsfall einer Übertragung des Virus auf einen Hund, ein zweijähriger symptomfreier deutscher Schäferhund, bekannt. “Nachdem COVID-19 Virusinfektionen mittlerweile in der menschlichen Population weit verbreitet sind”, so die Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE), “besteht die Möglichkeit, dass einige Tiere durch engen Kontakt mit infizierten Menschen infiziert werden” (OIE, Stand: 23.03.2020).

Aus der Erfahrung der Sars-Epidemie des Jahres 2003 ist überliefert, dass Hunde oder Katzen sich beim Menschen nicht anstecken können – und umgekehrt, dass sich Menschen bei Hunden oder Katzen nicht anstecken. Die Realität des COVID-19 kennt diese Gewissheit nicht mehr.

Die Weltorganisation für Tiergesundheit empfiehlt deswegen: Wenn möglich, sollten Personen, die an COVID-19 erkrankt sind oder bei denen Verdacht auf die Krankheit besteht, einen engen Kontakt zu ihren Haustieren vermeiden und dafür sorgen, dass ein anderes Haushaltsmitglied auf ihre Tiere aufpasst. Falls sie sich selbst um ihre Tiere kümmern müssen, sollten sie gute Hygienemaßnahmen anwenden und, falls möglich, eine Gesichtsmaske tragen.”

Doch diejenige Erkenntnis, die derzeit unter Medizinern für die größte Beunruhigung sorgt – oder sorgen sollte -, ist wohl die Tatsache, dass sich das neue Coronavirus unbemerkt verbreiten kann. Zwar scheinen Infizierte die größte Menge an Viren zum Beginn des Eintritts von Symptomen zu verbreiten. Doch gemäß neuer Schätzungen könnten 44 Prozent der Übertragungen bereits eintreten, bevor die Menschen Symptome aufweisen.

“Die in dem asymptomatischen Patienten festgestellte Viruslast”, so chinesische Forscher in einer Korrespondenz an das New England Journal of Medicine vom 19.03.2020, “war derjenigen der symptomatischen Patienten ähnlich.” Mit anderen Worten: Auch Personen, die nicht krank zu sein scheinen, können vermutlich das Coronavirus übertragen.

Die Realität der Verbreitung der neuen Atemwegserkrankung ähnelt somit bekannten Infektionen und unterscheidet sich doch in wichtigen Aspekten von diesen: Das neue Coronavirus ist vermutlich wesentlich früher ansteckend als der aus dem Jahr 2003 bekannte Sars-Erreger, mit dem es genetisch verwandt ist. Und das neue Coronavirus ist vermutlich wesentlich länger ansteckend als die bislang bekannten Varianten akuter viraler Atemwegsinfektionen.

Keine adäquaten Einschätzungen oder Handlungsanweisungen

“Wir sind alle in einer Krise, die ein Ausmaß hat, das ich mir selber habe nie vorstellen können”, erklärte Lothar Wieler, der Chef des Robert-Koch-instituts, bereits am 20.03. als die Zahl der vom Coronavirus infizierten in Deutschland erst bei circa 15.000, die Zahl der Toten bei circa 50 lag – eigentlich Zahlen, die für einen Spezialisten dessen Aufgabe es ist, den gesellschaftlichen Notfall zu denken, noch gut greifbar sein sollten.

Doch eines der grundlegenden Probleme der aktuellen Situation liegt darin, dass sich auf der Basis von Daten über den Ist-Zustand keine adäquaten Einschätzungen oder Handlungsanweisungen ableiten lassen, jedenfalls nicht ohne die nahe und mittlere Zukunft zu berücksichtigen. Doch deren Verlauf ist in einem bestimmten Masse bereits programmiert und gleichzeitig doch unbestimmt. Entwirft man nun Szenarien über die mögliche Zukunft, so wird man bereits auf dem jetzigen Stand der Epidemie zu der Erkenntnis gelangen, dass ein möglicher Verlauf tatsächlich unvorstellbar ist.

Doch genau dies ist nun die zentrale Aufgabe: Sich das Unvorstellbare vorzustellen, dieses zu antizipieren und es durch proaktives Verhalten zu verhindern. In Zeiten, in denen Entwicklungen dem Gesetz des exponentiellen Wachstums folgen, muss sich die Wahrnehmung sehr schnell an die veränderte Realität anpassen. Genau dann nämlich besteht eine Chance, eine selbstzerstörende Prophezeiung zu erreichen: Wenn sich hinreichend viele Menschen gegen düstere Vorhersagen wehren und proaktiv etwas dagegen tun, dann wird der Eintritt der dunklen Prophezeiungen abgeschwächt oder sogar verhindert.

Für die Regierungen bedeutet dies, dass sie das Virus aggressiv bekämpfen und dessen naturwüchsige Ausbreitung verhindern müssen. Leider hat sich bereits gezeigt, dass sie in der überwiegenden Zahl der Fälle auf einen solchen Einsatz auch nicht annähernd vorbereitet waren.

Die Mittel, die jedem Einzelnen zur Verfügung stehen, sind vorerst auf Maßnahmen reduziert, die erst kürzlich als Symptome einer phobischen Störung eingestuft worden wären: die Warnungen vor einem generalisierten Ansteckungsrisiko ernst zu nehmen, auf physische Distanz zu Fremden zu gehen und größtmögliche Hygiene zu üben.

Thomas Schuster, Die neue Realität des Coronavirus. Telepolis, 27.03.2020.

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