Am Tag, als der Papst kam

von Thomas Schuster

LWIW, im Juli. Das Leben geht wieder seinen gewohnten Gang. Es regnet, wie so oft in diesem Sommer. Babuschkas verkaufen Blumen und getrockneten Fisch am Bordsteinrand. Studenten und alleinstehende Mütter, Rentner, Arbeitslose und Alkoholiker spazieren durch die Stadt. Verschlagene Gestalten, die sie die “Banditen” nennen, gehen ihren “Geschäften” nach. Sie bestehlen Frauen und sorgen ständig für Ärger, während sie von einem Gangsterleben wie im Spielfilm träumen. Die jungen Mädchen, die auf hohen Absätzen vor diesen Banditen flüchten, träumen wohl von etwas anderem.

Vor ein paar Tagen ist der Papst, der hier rimski papa heißt, hier gewesen. Die Kanaldeckel, die aus Sicherheitsgründen verschweißt wurden, sind noch verplombt. Das Schild der “Ukrainian Catholic University”, das neben dem Finanzamt am Striyska-Prospekt auftauchte, ist wieder weg. Die Stadtwerke haben auf Standardbetrieb umgeschaltet, in vielen Bezirken gibt es fließendes Wasser wieder nur zu bestimmten Tageszeiten. Die aus dem gesamten Land zusammengezogenen Sicherheitskräfte haben die Stadt verlassen, die Straßensperren sind entfernt. Überfüllte Straßenbahnen und klapprige Ladas beherrschen das Bild. Lwiw, die Stadt in der Westukraine, welche die Polen als Lwów kennen und die Deutschen als Lemberg kannten, findet zu ihrer Form der Normalität zurück.

Der Papstbesuch fiel in eine Zeit, in welcher die Ukrainer positive Signale ersehnen: Die Lage ist ernst, die Wirtschaft stagniert seit Jahren. Viele der knapp fünfzig Millionen Einwohner fristen ihr Dasein mit einem Monatseinkommen von 160 Hryvna, umgerechnet etwa 70 Mark. Die kapitalistische Konsumkultur bleibt für sie Illusion. Korruption und Schwarzhandel sind allgegenwärtig. Das Bruttoinlandsprodukt des Landes liegt um sechzig Prozent niedriger als zur Sowjetzeit. Den wenigen Neureichen, die sie auch in der Ukraine die “Neuen Russen” nennen, steht die Masse der Habenichtse gegenüber. Bonzen und Banditen stellen ihren Wohlstand aggressiv zur Schau. Die politische Lage ist prekär: Zwar verfolgt die Regierung eine Politik der Annäherung an Europa und will das Land in die EU bringen. Doch von den autoritären Tendenzen der alten Zeit mag sich die Führung nicht verabschieden.

Am Umgang mit den Medien wird dies besonders deutlich: Das New Yorker “Komitee zum Schutz der Journalisten” setzte den Präsidenten Leonid Kutschma, wie im Vorjahr, auf seine Liste der zehn schlimmsten Feinde der freien Presse. Dem Präsidenten wird vorgeworfen, Gewalt gegen die Presse, wie Bombenattentate auf Redaktionen und Angriffe auf Reporter stillschweigend zu tolerieren. Dies wiederum erzeuge ein Klima der Angst, das zur Selbstzensur führe. Zahlreiche Beobachter bestätigen, dass unabhängige Medien mittels ungünstiger Besteuerung und einer Vielzahl von Verleumdungsklagen in die Enge getrieben werden. Einer kürzlich durchgeführten Studie zufolge übersteige das Volumen der in Verleumdungsklagen gestellten Forderungen das Bruttosozialprodukt des Landes.

Zensur und Mord

Längst stellen viele laut die Frage, inwieweit Kutschma in die Unterdrückung der Medien unmittelbar involviert ist. Zensur der unabhängigen Presse gehört schon lange zur gängigen Praxis des Regimes. Doch mit der Entführung und Ermordung des regierungskritischen Journalisten Georgij Gongadse entspann sich eine Affäre, die beinahe zum Sturz des Präsidenten geführt hätte: Gongadse, ein bekannter ukrainischer Journalist und Redakteur der Internet-Website Ukrainska Pravda (www.pravda.com.ua), war am 16. September des letzten Jahres in Kiew verschwunden. Anfang November wurde in der Gegend des Ortes Taraschtscha eine geköpfte Leiche gefunden. Zwar wurde der fehlende Kopf nie gefunden, doch sowohl Gongadses Ehefrau als auch westliche Experten identifizierten den Körper später als den des verschwundenen Journalisten.

Ende November veröffentlichte Sozialistenchef Aleksander Moroz im Parlament Abhörprotokolle eines ukrainischen Geheimdienstoffiziers, die anzudeuten schienen, dass Kutschma, sein Stabschef sowie der Innenminister sich über Wege unterhalten hatten, wie man den unliebsamen Journalisten beseitigen könne. Daraufhin kam es zu heftigen Protesten der Opposition, die den Rücktritt des Präsidenten forderte. “Die Bevölkerung hat verstanden, was für ein Mann das Land regiert”, sagt der Journalist Mykola Savelyev, der für die Zeitung “Expres” arbeitet. Mitte Februar kam es zu einer Anti-Regierungs-Demonstration in Kiew, an welcher mehr als achttausend Menschen teilnahmen. Doch die Aufklärung des Falls Gongadse wurde von Regierungs-Behörden weiterhin stark behindert. Die wenigen unabhängigen Medien, die sich mit dem sogenannten “Kassettenskandal” kritisch auseinandersetzten, wurden schikaniert, wo es eben ging. Am vergangenen Freitag wurde Gongadse postum der Journalistenpreis der OSZE verliehen.

Dem Redakteur Igor Alexandrow, Chef des regionalen Senders “Tor” im Gebiet von Donezk, wurde derweil seine kritische Berichterstattung über die Korruption in der ukrainischen Kohle- und Stahlindustrie zum Verhängnis. Er erlag am Samstag den Verletzungen, die ihm unbekannte Schläger bei einem Überfall auf seine Redaktion mit einem Baseballschläger zugefügt hatten (F.A.Z. vom 9. Juli). Dabei soll es sich um einen Racheakt der von dem Getöteten so aufmerksam verfolgten Dunkelmänner im Staate gehandelt haben.

Leute ohne Moral

Ironischerweise war es gerade ein Medien-Ereignis, ein internationales gar wie der Besuch des Papstes vor einigen Tagen, von dem die Herrschenden sich Ablenkung erhofften. Gemeinsam mit den beiden katholischen Kirchen des Landes hatte Präsident Kutschma persönlich Seine Heiligkeit eingeladen. Sowohl zur Ankunft in Kiew als auch zur offiziellen Verabschiedung am Flughafen von Lwiw sonnte sich der Präsident an der Seite des Papstes im Lichte der internationalen Aufmerksamkeit. Das ukrainische Staatsfernsehen war mit Direktübertragungen im Dauereinsatz. Westliche Beobachter vermuten, Kutschma habe durch seine Unterstützung des Papstbesuchs seine Unabhängigkeit gegenüber Russland und der Russischen Orthodoxen Kirche im eigenen Land demonstriert. Ob es sich dabei auch um ein rein innenpolitisches Ablenkungsmanöver handelte, wurde von den westlichen Medien kaum hinterfragt.

“Wie kann man eine gerechte Gesellschaft auf der Basis von Mitgefühl und Liebe für seinen Nächsten gründen?”, fragte Kutschma bei der Verabschiedung des Papstes in Lwiw. Der Präsident vergaß nur leider, die Selbstbedienungsmentalität der oberen Schichten und die autoritäre Politik seiner eigenen Regierung zu erwähnen. Bereits vor dem Papstbesuch hatte Kardinal Ljubomir Husar, das Oberhaupt der griechisch-katholischen Kirche, bemerkt, die Ukraine werde von einer korrupten Schicht von Leuten ohne Moral regiert. Die politische Elite gibt sich weltoffen und tolerant – während Journalisten verschwinden, Politiker ermordet werden und der Präsident von nichts etwas wissen will.

Obwohl die meisten Ukrainer sich ihrer Heimat patriotisch sehr verbunden fühlen, sind viele sich doch bewusst, dass mit ihrem Land etwas nicht stimmt. Die Zivilgesellschaft leidet unter zunehmenden Soziopathien, wie Alkoholismus, Kriminalität und innerfamiliärer Gewalt. Die Lebenserwartung der Männer beträgt nur 58 Jahre. In diesem Land sterben Menschen beim Versuch, elektrische Hochspannungsleitungen zu stehlen, um das darin enthaltene Kupfer zu verkaufen. Im Gespräch mit Besuchern aus dem Westen erkundigen sich die stolzen Ukrainer neugierig nach dem Eindruck, den ihr Land auf den Reisenden macht. Man spürt, dass sie das Interesse an ihrer Heimat genießen, welches der Papstbesuch geweckt hat.

Doch der Papst ist samt seinem “Papamobil” abgereist. Und das Leben in Lwiw geht den gewohnten Gang. Babuschkas verkaufen Blumen und getrockneten Fisch am Bordsteinrand, während die Jugend vor dem Ivan- Franko-Opernhaus über den Svoboda-Prospekt flaniert. Großväter spielen Schach im Schatten der Grünanlagen. Junge Mütter führen ihre Kinder spazieren. Wer es sich leisten kann, isst einen Teller Borschtsch im “Wiener Kaffeehaus” und schaut sich von den wenigen Touristen westliche Umgangsformen ab. Die Banditen und ihre Bräute tangiert dies nur wenig. Sie und die “Neuen Russen” treffen sich nach Einbruch der Dunkelheit in der Diskothek “Sofia” am Prospekt Schewtschenko. Dort spielen schwarzgekleidete Männer mit roten Gesichtern, dicken Bäuchen und zu viel Wodka im Blut Gangster. Ihre jungen Begleiterinnen, auf hohen Absätzen, in Gucci oder Chanel, spielen ihr eigenes Spiel. Und die Journalisten in diesem Lande – sind besser auf der Hut.

Thomas Schuster, Am Tag, als der Papst kam. Wo Journalisten sehr gefährlich leben: Durch die wilde Ukraine. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.2001.

Zurück