Auf der Suche nach der verlorenen Inkubationszeit

von Thomas Schuster

Als im Frühjahr 2020 feststand, dass das Coronavirus sich Europa und Nordamerika eingefangen hatte, änderte sich die Tonlage merklich: Selbst diejenigen Entscheidungsträger, die über längere Zeit versucht hatten, die Epidemie auszusitzen oder wegzuerklären, als sie sich längst zur Pandemie ausgewachsen hatte, gaben sich nunmehr von dem Virus überrumpelt und taten so, als hätte ihnen dummerweise niemand verraten, dass das 21. Jahrhundert völlig ungeahnte Überraschungen auf Lager hat. Man sei nicht rechtzeitig gewarnt worden, hieß es nun, hinterher, von manchen, die vorher alles besser wussten.

Dass es sich bei solchen rhetorischen Wendemanövern derjenigen Kreise, die sich für gewöhnlich als “gut informiert” ausgeben und dies auch sein sollten, möglicherweise nur um Versuche handelte, die von ihnen zu verantwortenden akuten Versäumnisse im Zuge der nun chronisch gewordenen Epidemie zu kaschieren, wurde in etwa zu derselben Zeit deutlich: Bereits Mitte spätestens Ende November 2019, so verschiedene internationale Medienberichte im April 2020, könnten westliche Nachrichtendienste auf die Verbreitung des neuen Coronavirus in der chinesischen Großstadt Wuhan aufmerksam geworden sein.

Laut eines Berichtes des israelischen Fernsehsenders Channel 12 hätten amerikanische Geheimdienste in der zweiten Novemberwoche ein Exposé über den Ausbruch einer neuen Krankheit in Wuhan verfasst, das an die U.S.-Regierung, an israelische Regierungsstellen und sogar an die NATO weitergeleitet worden sei. Laut separaten Recherchen des amerikanischen Fernsehsenders ABC hätten amerikanische Nachrichtendienste bereits im November 2019 auf den Ausbruch in Wuhan hingewiesen und danach sukzessive zahlreiche Regierungsstellen und Entscheidungsträger zu warnen versucht.

Ein offenes Geheimnis

Doch selbst ohne das Vorhandensein geheimer Nachrichtenberichte war die Informationslage wesentlich besser, als sie später, im Zuge des Pandemierevisionismus, dem es um Relativierung systematischer Versäumnisse mittels Schuldzuweisungen an andere ging, reinterpretiert wurde. Die Behauptung, Informationen über den Ausbruch des Virus und das Ausmaß der von ihm verursachten Epidemie hätten sich nur langsam verbreitet, hält keiner kritischen Überprüfung statt. Selbst auf der Basis öffentlich zugänglicher Informationen verdichtete sich schnell ein Bild, das bei kompetenten Beobachtern große Besorgnis und prompte Reaktionen hätte auslösen müssen – und bei etlichen auch ausgelöst hat.

Bereits am 31.12.2019 hatten mehrere Nachrichtenagenturen, darunter AP, AFP, Reuters und dpa, gemeldet, dass chinesische Behörden einer ungewöhnlichen Form von Lungenentzündung nachgingen. Der Ursprung der Infektion wurde in einem Fischmarkt in Wuhan vermutet. Laut Behördenangaben handelte es sich um 27 Fälle einer Virusinfektion, von denen sich sieben Menschen in kritischem Zustand befanden. Ob es sich um den SARS-Erreger handelte, konnte man noch nicht bestätigen. Unklar war ferner, ob das Virus von Mensch zu Mensch übertragbar sei. Die Agenturmeldungen wurden umgehend von internationalen Medien aufgegriffen. Chinesische Behörden meldeten die Lungenentzündung unbekannten Ursprungs bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch am selben Tag.

Praktisch sofort reagieren mehrere Gesundheitsbehörden auf die mögliche Bedrohung mit Gegenmaßnahmen: Nach einer Dringlichkeitssitzung erhöht das Gesundheitsministerium von Hongkong noch am 31.12.2019 die Alarmbereitschaft. An allen Grenzübergängen einschließlich des internationalen Flughafens von Hongkong werden Fieberkontrollen eingeführt. Das Klinikpersonal wird zu erhöhter Vorsicht aufgerufen. Für Patienten mit typischen Symptomen, die sich zuvor in Wuhan aufgehalten hatten, wird Quarantäne angeordnet. Auch von den Gesundheitsbehörden in Taiwan und Macau werden Kontrollen von Passagieren auf Direktflügen aus Wuhan angeordnet. Bereits am 01.01.2020 wird in Hongkong eine Patientin wegen Verdachts auf die neue Lungenentzündung unter Quarantäne gestellt.

Am 08.01.2020 erklärt die WHO der Agentur Reuters zufolge, dass es sich bei dem in Wuhan aufgetauchten Erreger möglicherweise um ein neuartiges Coronavirus handelt. Das Virus könne ernsthafte Krankheitsverläufe hervorrufen, sei aber wohl nicht leicht zwischen Menschen übertragbar. Zu diesem Zeitpunkt haben bereits zahlreiche weitere asiatische Gesundheitsbehörden in Südkorea, Thailand, Malaysia, den Philippinen und Singapur verstärkte Kontrollen von Passagieren aus China eingeführt. Ebenfalls am 08.01.2020 wird in Südkorea ein Verdachtsfall gemeldet, der sich aber nicht bestätigen wird. Am 13.01.2020 wird in Thailand der erste bekannte Fall außerhalb Chinas bestätigt, eine chinesische Touristin, die bei einer Temperaturkontrolle am Bangkoker Flughafen aufgefallen war.

Am 14.01.2020 erklärt eine Vertreterin der WHO, dass eine begrenzte Übertragung des Virus zwischen Menschen möglich sei. “Doch es ist jetzt sehr klar”, so das Statement weiter, “dass wir keine anhaltende Mensch-zu-Mensch-Übertragung haben.” Dennoch bereite sich die WHO für einen größeren Ausbruch vor. Nachdem der Fall in Thailand bekannt geworden sei, habe man die Empfehlungen zur Infektionskontrolle für Krankenhäuser weltweit überarbeitet. Die britische Boulevardzeitung Daily Express titelt an diesem Tag: “Großbritannien im Alarmzustand, da wegen tödlichem Mystery-Virus aus China eine Pandemie droht”. Am 15.01.2020 wird der erste Fall in Japan durch einen Labortest bestätigt.

Am 18.01.2020 meldet die in Hong Kong ansässige South China Morning Post (SCMP), dass mindestens drei Verdachtsfälle in chinesischen Städten außerhalb Wuhans aufgetreten seien. Bis zu diesem Zeitpunkt habe es keine offiziellen Berichte über Infektionen in anderen chinesischen Städten gegeben. Nun, so die SCMP, habe man von verschiedenen Quellen Hinweise auf Verdachtsfälle in der südchinesischen Stadt Shenzhen und in Shanghai erhalten. Damit erhärtet sich der Verdacht, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Nun werden auch an Flughäfen in New York City, San Francisco und Los Angeles Passagierkontrollen für Reisende aus Wuhan eingeführt.

Die Virusbombe platzt

Nachdem Fälle im Ausland sowie Ansteckungen in China bekannt geworden waren, die sich nicht auf den Fischmarkt in Wuhan zurück verorten ließen, platzt am 20.01.2020 die Bombe: Das neue Coronavirus, so ein führender chinesischer Mediziner im Fernsehen, könne sich von Mensch zu Mensch verbreiten. Das Virus war in weiteren chinesischen Provinzen, außerhalb des Ausbruchsortes, nachgewiesen worden. Selbst medizinisches Personal schien schon infiziert worden zu sein. Ebenfalls am 20.01.2020 wird der erste bestätigte Fall einer Infektion in Südkorea gemeldet. Zu dieser Zeit befinden sich Hunderte von Millionen Chinesen aus Anlass des chinesischen Neujahrsfestes auf der Heimreise.

Das Virus erreicht nun auch die deutschen Hauptabendnachrichten. “Das neuartige Coronavirus in China”, so der Sprecher der “Tagesschau” am 20.01.2020, “breitet sich überraschend schnell aus.” Bereits mehr als 200 Menschen seien an dem neuen Lungenleiden erkrankt. Medizinisches Personal mit Masken, Menschenmassen, Temperaturscanner an Kontrollstellen – der Bildbericht illustriert die Meldung und zeigt den Mediziner Dr. Zhong Nanshan beim Interview im chinesischen Fernsehen, als er von der Übertragbarkeit des Virus spricht. “Mit dieser Nachricht ist klar”, so die Stimme der “Tagesschau” aus dem Off, “eine weitere Ausbreitung des Virus in China wird wahrscheinlicher und die Kontrolle der Krankheitswelle schwieriger.”

Der Virologe Christian Drosten wird in einem Interview des Spiegel am darauf folgenden Tag mit den Worten zitiert, dass sich die Übertragung des Virus “erstaunlich schnell” vollziehe. Zwar sei davon auszugehen, dass die Zahlen “weitaus höher” lägen, als aus den Statistiken hervorgehe. “Aber daraus”, so Drosten, “lässt sich nicht ableiten, inwiefern wir es mit einer Pandemie zu tun bekommen könnten.” Flughafenkontrollen brächten nur bedingt etwas, da sie nur Menschen mit Symptomen erfassten. Um die Verbreitung der Krankheit aufzuhalten, so Professor Drosten, müssten vor allem die chinesischen Behörden reagieren. In Deutschland bräuchte man “definitiv” keine Angst zu haben.

In einem Lagebericht der WHO wird die Situation am 21.01.2020 zusammengefasst: Bislang gebe es 282 bestätigte Fälle in den vier Ländern China, Thailand, Japan und Südkorea. Sechs Menschen seien an der Infektion in Wuhan verstorben. Von den 278 Fällen in China seien 51 Fälle ernsthaft erkrankt und 12 in kritischem Zustand. Die WHO stehe mit allen vier genannten Ländern in direktem Kontakt und stehe auch anderen Ländern auf Anfrage zur Verfügung. In China, Japan, und Südkorea werden, so die WHO, Infektionen aktiv verfolgt. Die öffentliche Risikokommunikation sei in allen betroffenen Ländern verstärkt worden.

Dass die tatsächlichen die veröffentlichten Fallzahlen stark übersteigen, wie auch der deutsche Virologe vermutet hatte, davon sind mehrere internationale Forschergruppen mittlerweile überzeugt. Die Schätzungen der nicht erfassten Infektionsfälle variieren, haben aber eines gemeinsam: Sie bewegen sich bei einem Mehrfachen der offiziell erfassten Zahlen. Berechnungen von Forschern des Imperial College London zufolge könnte es sich zu diesem Zeitpunkt, etwa in der dritten Januarwoche, um mehr als 1.700 Fälle handeln. Einem Team der medizinischen Fakultät der University of Hong Kong zufolge könnten sich zwischen 1.300 und knapp 1.700 Ansteckungsfälle in Wuhan ergeben haben.

Am 21.01.2020 werden in zwei weiteren Ländern Fälle des neuen Coronavirus von staatlichen Gesundheitsbehörden bestätigt: Die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) bestätigen die Infektion mit dem Virus, das zu dieser Zeit noch den Namen 2019-nCoV trägt, bei einem Patienten, der am 15.01.2020 aus Wuhan in den Bundesstaat Washington eingereist war. Die taiwanesischen Gesundheitsbehörden bestätigen einen ersten Fall bei einer Patientin, die ebenfalls aus Wuhan eingereist war und bereits seit dem 11.01.2020 unter Symptomen litt. Zu diesem Zeitpunkt sind somit Ansteckungsfälle in sechs Ländern dokumentiert: China, Thailand, Japan, Südkorea, die USA und Taiwan.

Empiriker und Empirie

Der rasante Anstieg der Fallzahlen macht, wie Der Spiegel formuliert, nun auch internationale Beobachter “stutzig”. Es werden Zweifel an der Genauigkeit der Fallzahlen geäußert, die von den chinesischen Behörden veröffentlicht werden. Erinnerungen an die Sars-Epidemie des Jahres 2002 werden wach, als auf den Ausbruch einer neuartigen Infektion zu zögerlich reagiert und die Öffentlichkeit nicht rechtzeitig informiert worden war. Sicher scheint nunmehr, dass sich das Virus auch international ausbreiten könne. Man müsse sich deswegen vorbereiten, so Professor Drosten im Spiegel, brauche sich aber keine Sorgen zu machen. “Wir haben einen sehr guten Pandemie-Aktionsplan”, so Drosten, “der in solchen Fällen greift.”

Doch die Risikowahrnehmungen gehen zu dieser Zeit signifikant auseinander. Viele Menschen in Asien bereiten sich in großer Eile auf eine Epidemie vor: In Hong Kong und anderen Teilen Asiens sind Gesichtsmasken und Handdesinfektionsmittel in kürzester Zeit ausverkauft. Taiwan hat bereits ein Exportverbot für Masken verhängt. Die Online-Plattform von Alibaba behauptet, in nur zwei Tagen 80 Millionen Masken verkauft zu haben. Die Gesundheitsbeamten der WHO am Genfer See hingegen lassen sich Zeit: Sie erklären am 23.01.2020 nach einer zweitägigen Dringlichkeitssitzung, sie seien sich uneins, ob es sich um einen internationalen Gesundheitsnotstand handele oder nicht. Die Lage sei jedoch so dringlich, dass man sich in einigen Tagen wieder versammeln wolle.

Für den Fall, dass das Virus dem gespaltenen Votum der WHO-Beamten nicht folgen und sich verbreiten sollte, gibt die WHO eindringliche Empfehlungen. “Es wird erwartet, dass ein weiterer internationaler Export von Fällen in jedem Land auftreten könnte”, so die WHO. “Deswegen sollten alle Länder auf eine Eindämmung vorbereitet sein, inklusive aktive Überwachung, Früherkennung, Isolierung und Fallmanagement, Kontaktverfolgung und Prävention der Weiterverbreitung der 2019-nCoV-Infektion und sie sollten sämtliche Daten mit der WHO teilen.” Der Generaldirektor der WHO erklärt, “dass der Ausbruch ein sehr hohes Risiko in China und ein hohes Risiko regional und global darstellt”. Das Robert-Koch-Institut stuft die Gefahr für Deutschland zu dieser Zeit “als gering” ein.

Gemäß dem Situationsbericht der WHO vom 23.01.2020 wurden bereits 581 Fälle des neuartigen Coronavirus bestätigt, davon 571 Fälle in China. 17 Menschen sind gestorben. Die Fallzahl hat sich gegenüber dem Vortag um 267 erhöht und damit fast verdoppelt. Bestätigte Fälle gibt es nun in 25 chinesischen Provinzen sowie in Hongkong, Macau, Taiwan, Thailand, Südkorea, Japan und den USA. “Es wird erwartet, daß weitere Fälle in andere Länder exportiert werden und dass weitere Übertragungen vorkommen könnten.” Unterdessen werden erste Verdachtsfälle aus Mexiko, Kolumbien, Brasilien, Schottland, Frankreich und Russland gemeldet. In Singapur und Vietnam werden erste Fälle bestätigt.

Zeit zu reden und Zeit zu handeln

Während die Gesundheitsbürokraten am Genfer See sorgfältig abwägen, schreiten die chinesischen Behörden zur Tat. “Um die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus zu stoppen”, so präsentiert der Sprecher der Tagesschau am 23.01.2020 die Weltnachricht kurz vor dem Wetterbericht, “hat China mehrere Millionenstädte abgeriegelt”. Es folgen Aufnahmen aus Wuhan, das unter Quarantäne gestellt Szenen aus einem Zombiefilm wachruft. Es gebe einen “massiven Andrang” auf Krankenhäuser. Um 10.00 Uhr am Vormittag war die Millionenstadt von der Außenwelt abgeriegelt worden. Dies, so ein Sprecher der WHO nicht unzutreffend, “ist beispiellos in der Geschichte der öffentlichen Gesundheit”. Insgesamt werden circa 50 Millionen Menschen unter Quarantäne gestellt.

Während die hochnervösen Chinesen zu historisch präzedenzlosen Maßnahmen greifen, sind andere gelassen. “Wir haben ein viel transparenteres China”, erklärt der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn im Schweizer Luxusort Davos. Seit der Sars-Epidemie habe sich viel geändert. “Tatsächlich sind die Handlungen Chinas viel effektiver, bereits in den Anfangstagen”, so Spahn zu einem Zeitpunkt, als die Effektivität der Maßnahmen völlig offen ist. Aber wirklich wichtig sei, dass man die Dinge in der richtigen Perspektive sehe. “In Deutschland sterben bis zu 20.000 Menschen an der Grippe. Also im Vergleich dazu nehmen wir das ernst, wir sind vorbereitet, wir bereiten uns weiter vor, aber man muss das in der richtigen Perspektive sehen.”

Jens Spahn hält die Gesundheitssysteme Europas und der USA für gut gewappnet. “Sobald jemand mit einer Infektion ausfindig gemacht wird”, so Minister Spahn, “kommt er auf die Isolierstation eines Krankenhauses. Wir werden sehr schnell erkennen, wen er in den vergangenen Tagen getroffen hat, und wir werden entscheiden, ob wir etwas unternehmen müssen. Also wir wissen wirklich, was wir tun und wir sind vorbereitet.” Deutschland habe während seiner G20-Präsidentschaft sogar eine Echtzeit-Übung für Gesundheitsminister veranstaltet. Zur Ebola-Epidemie vor fünf Jahren habe man herausgefunden, dass man aufgrund von Intransparenzen viel zu spät reagieren könnte. “Das hat sich definitiv geändert”, so Minister Spahn.

Zur selben Zeit warten internationale Forscher mit handfesten Informationen auf. Das Krankheitsbild sei dem von Sars sehr ähnlich. Von anfänglich 41 infizierten Personen in Wuhan hätten ein Drittel keinen Kontakt zu der vermuteten Ausbruchsstelle am Fischmarkt in Wuhan gehabt – ein deutlicher Hinweis auf die effiziente Übertragbarkeit des Virus unter Menschen.

Als besonders überraschend wird die Entdeckung asymptomatischer Infektionen eingestuft, welche den Ausbruch verstärken könnten. Das Virus habe das Potential, eine Pandemie zu verursachen. “Wir müssen auf der Hut sein, dass sich der aktuelle Ausbruch nicht zu einer anhaltenden Epidemie oder sogar einer Pandemie entwickelt”, so ein Bericht am 24.01.2020. “Es ist jetzt die Zeit zu handeln.”

“Kein Grund zur Sorge”

Das Coronavirus ist nun auch allabendlich in den Hauptnachrichten ein Thema. “Das neuartige Coronavirus”, so die Tagesschau-Sprecherin am 25.01.2020, “breitet sich knapp einen Monat nach dem ersten Auftreten in China weiter aus.” Die USA und Frankreich, so die beiläufige Meldung, wollten ihre Staatsbürger nun aus Wuhan evakuieren. “Dass erste Einzelfälle nun auch in Krankenhäusern in Frankreich bestätigt wurden”, so die Stimme der Tagesschau, sei “für Experten kein Grund zur Sorge.” Professor Drosten erklärt: “Für mich ändert das Ankommen von Einzelfällen in Frankreich gar nichts an der Einschätzung der Lage.” Die neuen wissenschaftlichen Daten aus China seien “viel wichtiger”. Das Ganze sei “sehr, sehr ähnlich wie SARS”. An deutschen Kliniken, so die Einschätzung der Tagesschau, sei man vorbereitet.

Berichten der Washington Post zufolge hätten sich bereits zu dieser Zeit, Ende Januar, die täglichen Briefings amerikanischer Geheimdienstberichte überwiegend mit COVID-19 beschäftigt. Aus diesen Berichten sei die Gefahr, die von dem Virus ausgeht und dessen Potential, eine Pandemie zu verursachen, ersichtlich geworden. Doch nach dem historisch beispiellosen “Lockdown” von 50 Millionen Menschen bedurfte es keiner Geheimdienstberichte mehr, um das Ausmaß der Bedrohung zu erahnen. Mit einer unzureichenden Informationsgrundlage lassen sich verzögerte Reaktionen auf die Bedrohung nicht erklären – eher schon mit dem Unvermögen, auf hinreichende Informationen adäquat zu reagieren.

Wem die apokalyptischen Fernsehbilder aus China nicht Hinweis genug waren, der konnte sich auf die Prognosen ausgewiesener Fachleute stützen. Dreißig mal höher als offiziell bestätigt könnte die Zahl der Infektionen in Wuhan sein, warnten die Forscher der medizinischen Fakultät der University of Hong Kong University am 27.01.2020. Damit sei zwar noch längst nicht sicher, dass es zu einer Pandemie kommen werde. “Aber wir müssen darauf vorbereitet sein”, so der Leiter des Teams, “dass diese spezifische Epidemie sich gerade zu einer globalen Epidemie ausweitet.” Genau an diesem Tag wurde der erste Fall einer Infektion in Deutschland bestätigt.

Thomas Schuster, Auf der Suche nach der verlorenen Inkubationszeit. Telepolis, 26.04.2020.

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