Tosender Lärm. Die Märkte im Zeitalter ihrer medialen Manipulierbarkeit

Die Atmosphäre ist beinahe mediterran. Passanten baden in den sanften Strahlen des milden Frühlingslichts. Die Gassen von Günzburg an der Günz sind an diesem Abend im April 2001 rege bevölkert. Vor dem Forum am Hofgarten, der Stadthalle der schwäbischen Kleinstadt, steht eine Traube von Menschen. Korrekt frisierte Männer im seriösen Grau des Geschäftsanzugs sind in ernsthafte Gespräche vertieft. Nur wenige Frauen befinden sich  unter ihnen.

Ein Hauch von Wall Street durchweht die kleine Welt des Schwäbischen Barockwinkels: Die Volksbank Günzburg hat zum Börsen-Talk geladen. Markus K. Koch, der für den Nachrichtensender n-tv vom New Yorker Börsenparkett berichtet, ist der hochdotierten Einladung des Finanzinstituts gefolgt, um seine Sicht der Weltökonomie, sein aktuelles Buch und vor allem sich selbst zu verkaufen.

Auf dem Podium des Hauptsaals, vor der überlebensgroßen Projektion seines Videobildes, plaudert der jugendlich wirkende Star-Journalist über seine Erlebnisse im Weltfinanzzentrum. Er erzählt Anekdoten von den Aktienmärkten, analysiert nebenbei die internationale Ökonomie und unterhält das vollbesetzte Auditorium mit seinen Witzen. Dieter Kölmel, der Direktor der Volksbank, freut sich in der Anmoderation: Für ihn ist der smarte Reporter die Verkörperung des amerikanischen Traums.

Koch ist clever. Vom Finanzgeschäft ist er in den Journalismus gewechselt. Weil er an der Börse keine Gewinne machte, ist er Börsenberichterstatter geworden. So muss er sein Einkommen nicht mehr damit bestreiten, die richtigen Investments zu finden. Heute lebt er davon, anderen Leuten zu erklären, wie man die richtigen Investments ausfindig macht. Dafür kassiert er allein an diesem Abend einen fünfstelligen Betrag.

Koch kennt sich aus. Im Börsenboom sei “so viel Geld kreiert worden”, das hätte auf Dauer nicht weitergehen können. Alan Greenspan, den Chef der U.S.-Notenbank, bewundere er sehr. Und er lobt die Arbeit der amerikanischen Aufsichtsbehörde SEC, welche in den USA die schlimmsten Auswüchse an der Börse verhindert habe. Er plädiert für eine vernünftige Überwachung der Märkte auch in Deutschland, glaubt jedoch, hierzulande sei noch immer zuviel Staat im Spiel.

Koch spendet Trost. Die “Korrektur” der Aktienmärkte sei “gesund” gewesen und “ziemlich kurz”. Er meint damit den schrittweisen Kollaps internationaler Börsenindizes, der zu diesem Zeitpunkt bereits über ein Jahr andauert. Natürlich seien die Märkte überbewertet gewesen, weiß der Reporter im Nachhinein. Und er prognostiziert, der Bullenmarkt, den er gerade für tot erklärt hat, könne durchaus noch einige Jahre weitergehen.

Koch gibt sich kritisch. “Die Tagesberichterstattung”, erklärt er, “ist für die mittel- und langfristige Anlageentscheidung mit Sicherheit irrelevant. Das steht außer Frage.” Auch von den Prognosen sogenannter “Gurus” sei nichts zu halten. “Niemand weiß hundertprozentig, was geschehen wird.”  Gerüchte in den Medien seien generell mit Vorsicht zu genießen.

Am Ende eines vergnüglichen Abends verabschiedet sich Koch von seinen Gastgebern. Anderntags wird er zu einem weiteren Gastauftritt erwartet. Die Börsenindices werden neue Tiefs markieren. Nach seiner Rückkehr ans New Yorker Börsenparkett wird Markus K. Koch wieder tagesaktuell über die Kursbewegungen, die Prognosen der Analysten und die Gerüchte aus der Finanzwelt berichten.

Informiert bis in den Ruin

Hinterher ist man immer schlauer. Doch überzeugend so zu tun, als hätte man vorher schon Bescheid gewusst, das ist eine Kunst. Astrologen, Gurus und Wahrsager leben von diesem Prinzip. Aber auch Meteorologen, Mediziner und manch andere Vertreter akademischer Stände. Die Treffsicherheit ihrer Vorhersagen variiert im Einzelnen erheblich. Doch in einem sind sie sich ähnlich: Dass sie hinterher stets schon vorher alles wussten.

Auch Journalisten. Dass mit den Versprechungen der Wirtschafts- und Finanzmedien etwas nicht stimmt, ist zahlreichen Beobachtern heute klar: Den Anlegern wird der permanente Gewinn in Aussicht gestellt – auch während weltweiter Börsenverluste. Analysten und Journalisten verströmen Daueroptimismus – ganz egal wie der Markt läuft. Selbsternannte Gurus verkünden großspurig ihre Kursziele – und liegen systematisch daneben.

Das Geschäft der Medienmacher ist es, ihr Publikum zu locken, der Auflage und Quote willen. Noch in der größten Aktieneuphorie oder in Phasen der Börsenpanik werden die Privatanleger blindlings in den Markt gejagt. Erst im Finanzdebakel wird der Irrwitz deutlich: Niemand kann Börsenkurse vorhersagen, Finanzjournalisten erst recht nicht.

Die Botschaft klang vielversprechend: Eine neue Ära der unbegrenzten Möglichkeiten sei angebrochen. Der Wegfall des Kommunismus, die Dynamik der Globalisierung, die demographische Entwicklung, die neuen technologischen Möglichkeiten – gemeinsam hätten diese Faktoren nichts weniger als eine Revolution eingeleitet. Reichtum für alle war in greifbare Nähe gerückt. An der Börse sollte dieser Traum verwirklicht werden. Doch das Spiel ohne Grenzen entpuppte sich als loser’s game.

Im Boom bleibt verborgen, worum es sich eigentlich handelt, wenn Wirtschaftszeitungen, Anlegermagazine und das Finanzfernsehen mit ihren Tipps in die richtige Richtung treffen: um Scheinkorrelationen, zeitweilige Parallelitäten, die auf nicht viel mehr als purem Zufall basieren. Die Börse läuft gut und die Vorhersagen der Analysten und Journalisten sind optimistisch. Wer ahnt schon, dass zwischen Worten und Werten nur eine höchst labile Beziehung besteht?

Die Scheinkorrelation unterstützt die Kontrollillusion: Preise und Prognoseziele steigen und lassen leicht den Eindruck entstehen, dass dabei ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Anleger und Tipp-Geber können so dem Irrtum erliegen, dass sie den Kursverlauf und die Rendite ihrer Anlagen kontrollieren. Gurus und manche Medien schüren gezielt diese Täuschung und fördern übertriebene Gewinnerwartungen.

Erst im Nachhinein wird die kollektive Selbsttäuschung offenkundig – wenn es für viele Investoren zu spät ist: Erst wenn der Börsenzug talwärts braust wird klar, dass die Tipps das Papier nicht wert waren, auf dem sie geschrieben standen. Die Investoren müssen erkennen, dass ihr zeitweiliger Anlageerfolg das Ergebnis eines Zufallsprozesses war und ihre Anlageentscheidungen den Ausgang des Börsenspiels nicht bestimmen.

Selbstüberschätzung ist an den Finanzmärkten weit verbreitet: Anlageziele lassen sich zwar stecken, doch die Zielerreichung hängt nicht von individuellen Entscheidungen ab. Portfolio-Performance lässt sich nicht programmieren. Dennoch glauben viele Anleger, dass es ihnen gelingen wird, den Markt zu schlagen. Jeder hält sich für schlauer als der nächste. Diese Neigung zur Selbstüberschätzung wird von den Medien systematisch verstärkt – und in vielen Fällen gezielt gefördert.

Gelegentlich steckt auch mehr als nur der Zufall dahinter, wenn die Kurse den Worten zu folgen scheinen. Wenn gewisse Gurus in gewissen Fernsehshows ihre Prognosen abliefern, schießen die Kurse wiederholt in die Höhe. Die Meinungsführer und ihre Jünger produzieren Sich-selbst-erfüllende Prophezeiungen. Doch wie alle Gewinnschemata, legt sich auch dieser “Guru-Effekt”, wenn zu viele Trittbrettfahrer den Geld-Sehern nacheifern. An den Aktienmärkten trägt jedes Erfolgsrezept den Keim der Selbst-Destruktion.

Die Wirtschaftsmedien folgen den Gesetzen des Show-Geschäfts: Nutzwert und fundierte Informationen werden angekündigt. Gearbeitet jedoch wird mit den Mitteln der Aufmerksamkeitsindustrie. Geboten werden Spannung und Action, Stars und Sternchen, Hoffnungen und Träume, Erlösungsphantasien. Und Versprechungen: Simple Rezepte zur Schaffung großer Reichtümer haben Hochkonjunktur.

Doch die Kompetenz der Ratgeber ist vielfach nur simuliert. Der Nutzwert wird nur vorgegaukelt. Der sichere Gewinn, die Rendite ohne Risiko, das ist die Quadratur des Kreises. Natürlich lassen sich durch kluge Informationsselektion die Chancen und Risiken an den Märkten besser einschätzen. Eine Erfolgsgarantie, wie in den markigen Sprüchen der Medienmacher, folgt daraus jedoch nicht. Viele Versprechungen der Wirtschaftsmedien sind in der Realität nicht einlösbar.

Manchen Wirtschaftsjournalisten ist klar, dass der tatsächliche und der behauptete Nutzwert ihrer Veröffentlichungen weit auseinanderklaffen. Und sie verhehlen dies nicht einmal. Das Publikum wisse schon, so eine beliebte Argumentation, dass man den Medien generell mit Skepsis begegnen müsse. Sachliche Mängel der Berichterstattung seien schließlich gang und gäbe. Mit dieser Entschuldigung fährt man fort, den Anlegern einzuschärfen, mit den Medien würden sie reich. Zynischer geht es nicht.

Marktmanipulation und Finanzkollaps

Im Anschluss an den fatalen Börsenabsturz zu Beginn dieses Jahrzehnts war viel von der “Dienstmädchenhausse” die Rede. Naive Kleinanleger hätten die Krise verschuldet, indem sie viel zu spät in die Märkte eingestiegen seien. Blindlings seien sie irrationalen Impulsen und windigen Geschäftemachern, darunter auch Anlegermedien, auf den Leim gegangen. Doch nicht einmal diese nachgeschobene Rationalisierung trifft den Kern des Problems, da sie die tatsächliche Tragweite der finanziellen Verwerfungen verkennt.

Von wo aus wurde der frei flottierende Börsenwahn in die Öffentlichkeit injiziert? Die Politik sprach von privater Altersversor
gung, definierte den citoyen kurzerhand zum shareholder um und verwies ihn an den Kapitalmarkt. Die Wirtschaft stilisierte die Aktienkultur zur Standortfrage und maß die “Börsenreife” der Nation an Aktionärszahlen und Börsenumsätzen. Die Banken kanalisierten einen Fluss destabilisierender Geldströme, indem sie sich gegenseitig mit immer noch irrwitzigeren Prognosen übertrafen.

Die Medien schließlich sorgten für die levée en masse im Volk der Börsen-Bürger, indem sie die Stunde der finanziellen Unabhängigkeit verkündeten und die Kunde vom Reichtum im Schlaf eilfertig vervielfältigten. Alle sprachen von der Börse. Zunächst die Wirtschaftspublikationen, bald jedoch der gesamte Medienapparat, von der “Harald Schmidt-Show” bis hinunter zum Stadtmagazin. Ohne die Freisetzung des Finanzwahns durch die Medien wären die Exzesse der jungen Börsendemokratie kaum denkbar gewesen.

Dienstmädchenhausse? Diese Erklärung ist von demselben intellektuellen Kleinkaliber, wie die Rezepte der geldvernichtenden vermeintlichen Geldvermehrer. Die Kleinanleger sind für die kollektive Kapitalvernichtung nur indirekt mitverantwortlich, sie sind jedoch die direkt Leidtragenden der Missverhältnisse in Märkten und Medien. Sogar die Kritik des Börsenwahns ist noch von diesem selbst befallen.

Bis zum Frühjahr 2001 addierten sich die Verluste in den USA auf rund vier Billionen Dollar  – weit mehr als der Gegenwert des in der Nachkriegszeit geschaffenen Geldvermögens 
der Deutschen. Und auch hierzulande bluteten die Anleger: Allein im Jahr 2000 verloren sie ein Viertel ihres Aktienvermögens. Anders die Finanzindustrie: Selbst nach einem der miserabelsten Jahre seit Bestehen der Börsenindizes stiegen die Bonusse der großen Investmentfirmen um bis zu zwanzig Prozent: Die Wall
 Street beendete das Jahr 2000 mit dem größten Profit ihrer Geschichte. Und Martin Kohlhaussen, der Vorstandssprecher der Commerzbank, freute sich: “Wir haben noch nie ein Ergebnis gehabt, wie wir es demnächst vorstellen werden. Die Entwicklung in 2000 war großartig.”

Wie üblich nahm Warren Buffett auch in seinem Jahresbericht 2000 zum aktuellen Marktgeschehen Stellung. Er fand dafür folgende Worte: “Aktien-Promoter haben in den letzten Jahren Milliarden von Dollar aus den Taschen der Öffentlichkeit in ihre eigenen Portmonnaies (und die ihrer Freunde und Partner) bewegt. Tatsache ist, dass ein Blasenmarkt die Schaffung von Blasenfirmen erlaubt hat, Organisationen, die eher mit einem Auge darauf geschaffen wurden, den Investoren Geld abzunehmen, als ihnen Geld zu bringen.” Dabei handele es sich, so Buffett, um nichts anderes, als eine groß angelegte Vermögensumverteilung.

Mit dem Wachstum der Wirtschaftsmedien nehmen auch die Auswüchse zu. Marktmanipulation wird zur Routine. Desorientierung wird zum Normalzustand. Die anschwellende Kakophonie des Finanzlärms lähmt die kritischen Kapazitäten einer wachsenden Zahl von Anlegern und macht den Finanzkollaps wahrscheinlicher: Die Abwanderung desillusionierter Investoren kann den Märkten einen schlimmen Schlag versetzen.

Instabilität gehört zum Wesen der Finanzmärkte auf dem gegenwärtigen Stand ihrer Entwicklung. Der gigantische Kreislauf des globalen Geldsystems gerät periodisch aus dem Gleichgewicht, internationale Finanzkrisen sind die Folge. Bis vor kurzem noch konnte man der Meinung aufsitzen, die Brandherde von Finanzkrisen blieben in Randregionen der Globalökonomie isoliert. Mit der finanziellen Verwüstung der westlichen Wachstumsbörsen im Börsencrash hat sich dieser Eindruck als illusorisch erwiesen.

Der Einfluss der Wirtschaftsmedien auf das Anlegerverhalten stärkt die destabilisierenden Kräfte im Innern des Finanzsystems. Immense Geldsummen werden in kürzester Zeit in das System gepumpt oder schlagartig aus diesem wieder abgesaugt. Die Medien beschleunigen diese Prozesse, indem sie die Stimmungsanfälligkeit der Märkte steigern und dadurch zum Katalysator hysterischer Kettenreaktionen werden.

Die Austrocknung des deutschen Nemax 50-Index, der von seinem Hoch bei knapp 9.700 Punkten im Frühjahr 2000 in nur zwölf Monaten auf unter 1.500 Punkte fiel, ist ein eindrucksvolles Beispiel für den Kontrollverlust im Zuge geplatzter Börsenträume. Die Finanzeuphorie, die zum Anschwillen der Börsenblase führte, wäre ohne die Eingaben der Medien kaum denkbar gewesen. Die anschließende Börsenschwäche ging mit einer massiven Desillusionierung der Anleger einher, die erkennen mussten, dass sie es mit verbal inkontinenten Medien zu tun hatten.

Auszug aus “Tosender Lärm” in Thomas Schuster, Die Geldfalle. Wie Medien und Banken die Anleger zu Verlierern machen. Reinbek: Rowohlt, pp. 17-31.