Ja, wo laufen sie denn?

von Thomas Schuster

Bernd Förtsch hatte unter Kollegen zuletzt nur wenig Freunde: Zu effektvoll hatte er sich in den Medien in Szene gesetzt und damit den Erfolg seiner Börsenzeitschrift “Der Aktionär” sowie der von ihm beratenen Aktienfonds vorangetrieben. Als Forum diente wieder einmal die Fernsehsendung “3sat-Börse”. Erst dort avancierte der fränkische Blattmacher zum vollwertigen Börsenpropheten und sieht sich deshalb nun des Verdachts der Insider-Geschäfte ausgesetzt. Er soll seine Position im medialen Rampenlicht zur persönlichen Bereicherung genutzt haben. Genau darum jedoch geht es im Geschäft der Börsengurus: durch Positionierung in den Medien eine Gefolgschaft unter den Privatanlegern aufzubauen.

Der moderne Börsenguru ist ein Fernsehprodukt. Angetrieben durch den Appetit der Medien auf sogenannte “Kultfiguren”, erscheinen regelmäßig neue Stars am Fernsehhimmel. Obskure Börsenbrief-Autoren und andere “Finanzexperten” avancieren in Windeseile zu Leitfiguren einer Anhängerschaft, die nicht selten in die Zehntausende geht. Der Wettlauf um diese begehrte Führungsposition findet naturgemäß vor laufender Kamera statt. Hier wird der Marktwert des Börsen-Sehers festgelegt. Je häufiger er sein Gesicht auf dem Bildschirm präsentiert, desto höher klettert die Gage für seine Geldgeschichten. Auf dem Bildschirm treffen die Großmeister auch periodisch aufeinander, um in publikumswirksamen Wortgefechten zu ermitteln, welcher von ihnen Erster unter Gleichen ist.

Doch die Strahlkraft der Börsen-Auguren ist nicht unbedingt von großer Dauer. Der Fernsehmarkt lebt schließlich davon, regelmäßig eine seiner heiligen Kühe zur Schlachtbank zu führen. Die Kür eines neuen Idols ist oft nur der Auftakt zum eigentlichen Schauspiel – der genüsslichen Demontage. Egbert Priors öffentlich zelebrierter Absturz vom bestaunten Finanzgenie zum dubiosen Kursmanipulator lieferte den Präzedenzfall. Die Geschichte von Bernd Förtsch ist die Fortsetzung, und der Anwärter für den nächsten tiefen Fall steht parat, er weiß es nur noch nicht.

Doch was muss man eigentlich anstellen, um zum Thema Börse im Fernsehen erst einmal Gehör zu finden? Kompetenz steht als Qualifikation für den Guru-Bewerber gewiss nicht im Vordergrund. Eher schon eine plakative Verpackung, gepaart mit gezielten Provokationen. Es macht sich zum Beispiel immer gut, mitten in einer schönen Börsenrallye einen Crash “vorauszusagen”. Denn irgendwann wird es schon wieder abwärtsgehen. Im Grunde handelt es sich bei den Fernseh-Auftritten der hiesigen Finanzgrößen, mit sehr wenigen Ausnahmen, um inhaltlich belanglose Auftritte von Meteorologen, die von Regen reden, wenn die Sonne scheint, und ansonsten PR im Sinne jener Unternehmen betreiben, die sie vertreten.

Börsenkommentatoren von Weltformat gibt es seit André Kostolanys Tod in Deutschland nicht mehr. Die auf dem Parkett angesagten Visionäre kommen aus Amerika. Sie heißen Abby Joseph Cohen und Ralph Acampora, Elaine Garzarelli, Ed Yardeni und Barton Biggs. Ihren Worten lauscht die internationale Finanzgemeinde mit religiöser Hingabe. Dabei geht es weniger um Informationen, aus denen sich konkret Kapital schlagen ließe. Vielmehr fungieren die Gurus aus Amerika als Projektionsflächen der geheimen Ängste und Wünsche ihres Publikums. Sie geben der Börse ein Gesicht und bedienen unser Bedürfnis, dem chaotischen Treiben an den Märkten einen Sinn zu geben. Sie sind die Deuter der vermuteten Börsenmetaphysik.

Dementsprechend kryptisch fallen mitunter auch ihre Mitteilungen aus: “Wir glauben, die Gewinne im S&P 500 laufen weiter und sehen einen Anstieg um neun Prozent in 2000. Dies sowie unsere bulligen Erwartungen für Anleihen gibt uns gesunde Bewertungsmaße für den Aktienmarkt. Fügen wir unsere Prognose von 4,5 Prozent für die Rendite der zehnjährigen Anleihen hinzu, so können wir uns einen Stand im S&P 500 bei 1600 und 12 400 für den Dow im Laufe der nächsten sechs bis zwölf Monate vorstellen.”

Die Aussage stammt von Elaine Garzarelli. Sie hat ihren Guru-Status über Nacht errungen. Als Spezialistin für quantitative Analyse, in Finanzkreisen bis dato eher ein kleines Licht, zählte sie zu den wenigen Marktbeobachtern, die den Crash von 1987 kommen sahen. Danach ging es mit ihrer Karriere steil bergauf. Garzarelli wurde mit Angeboten überschüttet und machte schließlich sogar Werbung für Strumpfhosen. Der von ihr verwaltete Investmentfonds lief weniger gut. Sieben Jahre lang hing seine Entwicklung hinter dem Index S&P 500 zurück. Das heißt, dass es Garzarelli sieben Jahre lang nicht gelang, den Markt zu schlagen. Erst 1995 – nach dem Rausschmiss war sie mittlerweile Chefin einer eigenen Investmentfirma – lag sie wieder richtig und feierte ein Comeback.

Garzarellis Fall demonstriert, dass selbst bei den größten Sehern der Draht zum Börsengeist gelegentlich abreißt, auf hellsichtige Augenblicke lange Phasen der Ahnungslosigkeit folgen. Tatsächlich lässt sich argumentieren, dass Garzarellis besseres Abschneiden 1995 statistisch gesehen mehr als überfällig war. Im folgenden Jahr lag sie wieder schwer daneben, als sie sich im Juli 1996 zum zweiten Mal in ihrer Karriere mit einer Crash-Prognose versuchte.

Böse Zungen behaupten, ein Börsenguru sei jemand, der das Glück habe, in der richtigen Publikation zum richtigen Zeitpunkt mit dem richtigen Statement zitiert zu werden. Barton Biggs, globaler Investmentstratege bei Morgan Stanley Dean Witter, war in den ausgehenden neunziger Jahren dieses Glück nur selten beschieden. Mit kühler Brillanz und dem kritischen Blick des Globalstrategen ging er bei seinen Annahmen systematisch fehl.

Biggs gilt als sogenannter “Big Picture Man”, der bei seinen Analysen und Voraussagen einen globalen makroökonomischen Ansatz verfolgt. Von China und Russland über die aufstrebenden Ökonomien Südostasiens bis nach Latein-Amerika reicht sein Vorhersagegebiet. Tatsächlich hat er als einer der ersten das Potential der “Emerging Markets” erkannt. Allerdings lag er mit seinem Timing in anderen Fällen um Jahre daneben. Zudem unterschätzte Biggs die Wachstumschancen in den Vereinigten Staaten. Regelmäßig veröffentlichte er düstere Warnungen vor dem kommenden Einbruch der amerikanischen Börse. Dabei wähnte er die Logik der Geschichte auf seiner Seite. Doch die düsteren Szenarien seiner stringent pessimistischen Prognosen wollten sich über Jahre hinweg nicht einstellen. Biggs hatte den größten Börsenboom der amerikanischen Geschichte verpasst.

Doch er gilt trotzdem als Guru, denn auch die Fähigkeit zur systematischen Fehlprognose kann einen Stammplatz in den Medien garantieren. So wird Durchhaltevermögen bewiesen und dem Publikum ein Leitbild der Leidensfähigkeit präsentiert. Solche Standfestigkeit wird sogar von den Märkten belohnt: Nach zahllosen Fehleinschätzungen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Markt der Meinung des Gurus “anschließt”.

Drei Arten von Börsengurus lassen sich unterscheiden: Der Berater ist der Pragmatiker unter den Gurus. Er repräsentiert die bodenständigste Form der Börsenweisheit, das Tages-Geschäft ist sein Metier. Er glänzt mit Detailwissen und weiß die Kennzahlen aller börsennotierten Firmen auswendig. Das Maß seiner Weisheit lässt sich an der Wertentwicklung seiner Musterdepots ablesen. Davon hält der kluge Berater gleich mehrere parat.

Der Wissenschaftler rückt der Zukunft mit ausgeklügelten Theorien und quantitativen Modellen auf den Leib. Ausstaffiert mit Statistiken über das historische Börsengeschehen entwirft er unterschiedliche Szenarien künftiger Börsenentwicklungen. Er ist der Rationalist unter den Gurus. Zwar mangelt es ihm an visionärer Energie, doch findet er für jedes Ereignis im Nachhinein die passende Begründung.

Der Seher ist der Börsenguru in seiner schillerndsten Form. Von der Unordnung der Märkte und den Unwägbarkeiten des Alltags zeigt er sich wenig beeindruckt. Der Seher offenbart, aus ihm spricht das Börsenorakel. Natürlich könnte er seine Visionen mit dem Verweis auf Erfahrungstatsachen begründen. Doch das tut er nur in seltenen Fällen, zum Beispiel in Fernsehdiskussionen mit Standeskollegen, denen es an seherischer Kraft mangelt. Der Seher erscheint in zwei Varianten: als Apokalyptiker und als gute Fee. Gemeinsam ergeben sie ein unschlagbares Team, das sowohl in guten als auch schlechten Börsenzeiten die richtigen Worte parat hat.

Ob Boom oder Crash – für jede Phase des Börsenzyklus gibt es also den richtigen Guru. Die Treffergenauigkeit der Prognosen mag im einzelnen variieren, manchmal liegen alle zusammen daneben. Doch genau dies macht die wahre Größe eines Gurus aus: Er unterwirft sich nicht dem Wankelmut des Marktes, er zwingt ihm scheinbar seinen Willen auf. Mag sein, dass er nicht immer sieht, wohin der Markt in Zukunft läuft. Doch er sieht, wohin der Markt in Zukunft laufen sollte.

Thomas Schuster, Ja, wo laufen sie denn? Was ein Börsenguru ist und was er können muß. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2000.

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