Phantom des Terrors

von Thomas Schuster

Die Realität sei verschwunden, die Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden von der medialen Simulation – so oder so ähnlich klang es noch vor kurzem aus den Denkstuben der Philosophen. Die Medienwelt, lautete die These einflussreicher Denker, habe zum Ende der Differenz zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Wahrheit und Lüge geführt. Die Wahrnehmung der Menschen werde von Fernsehbildern dominiert. Niemand könne mehr zwischen “objektiver” Wirklichkeit und deren medialer Imitation unterscheiden.

Zehn Jahre sind vergangen, seit diese Thesen weite Verbreitung fanden, seit man den Krieg im Persischen Golf als den ersten “Videokrieg” bezeichnete: Dem Konflikt, hieß es damals, mangele es an Realität, da er nach dem Hollywood-Schema Gut gegen Böse in Szene gesetzt sei, der Schwerpunkt auf den special effects lag und man weit und breit keine Toten sah. Nein, so meinten manche, man könne nicht einmal sagen, ob ein Krieg jenseits der Bildschirme überhaupt stattgefunden habe.

Für Jean Beaudrillard war der Golfkrieg ein “unwirklicher Krieg”, eine Simulation, womöglich eine Fata Morgana. Es sei nicht zu entscheiden, ob den Medienbildern eine objektive Wirklichkeit entspreche. Paul Virilio erklärte, dass selbst die Krieger und ihre Opfer Teil einer gigantischen Medien-Show seien. CNN, so hieß es, habe die Virtualisierung der Welt verursacht.

Der Terror macht den Irrwitz deutlich: Während die Wahrzeichen New Yorks schon in Flammen standen, mögen Millionen von Menschen gehofft haben: Dies kann nicht sein, es muss sich um einen Spielfilm handeln. Viele Kommentatoren erwähnen den ersten Impuls des Unglaubens, der sie zunächst durchfuhr, als sie den Wahnsinn am Bildschirm bezeugten: Die Unglaublichkeit der Gewalt schien das Fassungsvermögen des menschlichen Verstandes zu übersteigen. Spätestens jedoch, als das zweite Flugzeug in das Gebäude raste, war klar: Das Unfassbare war Realität. Hier hatte die Wirklichkeit das Drehbuch geliefert. Die Ereignisse waren real, auch und gerade weil das definitionsmächtigste aller Nachrichtenmedien, der Sender CNN, die Ereignisse beglaubigte.

Worauf die Kritik schon lange hinwies, wurde allzu deutlich: Die Apologeten der Simulation haben die Symbolkraft der Bilder, ihre Fähigkeit, über sich selbst hinauszuweisen, als Realitätsverlust missverstanden. Doch das Desaster von New York demonstriert, dass die Medien-Images eben nicht zur Auflösung der Realität führen – sie fressen sich in diese hinein. In Millionen von Köpfen sind die Bilder der implodierenden Bauten eingebrannt. Die traurige Realität wird durch die Schreckensbilder nicht überlagert, sie wird intensiviert.

Zu Zeiten ihrer – vermeintlich – unangefochtenen Vorherrschaft mag den Amerikanern die Idee vom Krieg als medialem Nicht-Ereignis ideologisch opportun gewesen sein – ähnlich wie die Anfang der neunziger Jahre in Kreisen des amerikanischen Außenministeriums kursierende Lehre vom “Ende der Geschichte”. Amerikanische Militärinterventionen erhielten dadurch den Nimbus des Zwangsläufigen, als “unwirkliche” Ereignisse wurden sie in ihren realen Implikationen reduziert. Spätestens jetzt jedoch, da sich die Vorstellung von der Unantastbarkeit der Supermacht als Fiktion entpuppt hat, sind diese theoretischen Konstrukte falsifiziert.

Die Terroristen wissen dies schon lange: Sie funktionieren Medien gezielt zu Waffen um. Kommunikationsmittel fungieren ihnen als Kanonen, mit denen sie auf das Bewusstsein der Menschen zielen. Natürlich kann man die unmittelbaren physischen Konsequenzen des Anschlags kaum überschätzen: Die Vernichtung der beiden Riesengebäude, die Verwüstung eines ganzen Stadtteils, der Tod Tausender von Menschen – für solch verheerende Folgen hätte es nach konventioneller Lesart einer ganzen Armee bedurft. Die “Kollateralschäden” des Angriffs jedoch werden vor allem politischer und psychologischer Natur sein. Sie wurden von den Terroristen sorgfältig eingeplant und werden sich über eine mediale Kettenreaktion weltweit niederschlagen. Die globale Tragweite des Terrorangriffs folgt aus seiner bösartigen, doch durchschlagenden Simplizität: Die Attacke erfolgte im Zentrum der globalen Medienindustrie und traf die meistgefilmten Symbole amerikanischer Macht. Die Piloten des Terrors wussten, ihr Angriff würde vor laufenden Kameras stattfinden.

Logik der Massenmedien

Auch konnten sie wohl ahnen, dass ihre Aktion in den Massenmedien kaum dauerhafte Betrübnis auslösen würde. Nach kurzem Schock übernahmen die Routiniers in den Funkhäusern die Kontrolle und steuerten das Medien-Event nach Maßgabe der spektakulärsten Einstellung. Dass dabei die Sensationslust auf ihre Kosten kommen würde, dafür hatten die Protagonisten, die auch die Regisseure des Katastrophen-Szenarios waren, gesorgt. Wieder und wieder liefen die Bilder über den Schirm, die gigantische Stichflamme, der finale Kollaps der Zwillingstürme.

Schon jetzt ist sicher, dass es sich um die bestdokumentierte Gewalttat der Geschichte handelt: Nie zuvor hat die Menschheit zeitgleich ein ähnliches Inferno zu spüren bekommen. Damit haben die Terroristen zumindest ihre unmittelbaren Ziele erreicht: Sie haben ein undenkbares Chaos angerichtet, eine generelle geistige Verwirrung gestiftet, die weit über den Ort der Zerstörung hinausstrahlt. Von nun an folgt der Konflikt der Logik der Gewalt im Zeitalter ihrer medialen Potenzierbarkeit: Wie die verstörten Mienen gemäßigter moslemischer Führer von Mubarak bis Arafat, wie ihre theatralischen Erklärungen, man müsse den Terrorismus bekämpfen, verdeutlichen: Sie ahnen, was kommen wird. Die Schande, im Fernsehen, vor den Augen der Welt, im Herzen der Macht verwundet worden zu sein, wird die Amerikaner nicht ruhen lassen.

Die Vereinigten Staaten können kaum anders, als zu glauben, dass sie zum Gegenschlag gezwungen sind: Der Anspruch darauf scheint ihnen schon durch die Schwere des Unglücks gewährt. Dass sie es mit einem fast unsichtbaren Feind zu tun haben, wird ihre Wut nur steigern. Genau dies jedoch war es wohl, was die Attentäter zu ihrer rational geplanten Wahnsinnstat veranlasste: Ihre Opfer zu Handlungen zu bewegen, mit denen sie sich selbst weiter Schaden zufügen. Dies ist das Kalkül der Gewalt in der Ära der globalen Echtzeit-Medien: Ihre Resonanz über die Kommunikationsnetze zu verstärken, Angst und Schrecken zu verbreiten, den Gegner in Zugzwang zu bringen und damit Kettenreaktionen auszulösen. Die begrenzten Mittel selbst kleinerer terroristischer Zellen werden unermesslich potenziert – deswegen die Zerstörung der Symbole der Ordnung vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

Wie die Fernsehauftritte des amerikanischen Präsidenten in den Tagen nach dem Anschlag demonstrierten: Auch die Antwort auf den Terror wird über die Medien geliefert. Dies gilt für die krampfhaften Versuche, Normalität und Zuversicht auszustrahlen. Dies dürfte auch auf die Vergeltung zutreffen. Sie wird mit den sterilen Videobildern des Krieges im Persischen Golf vor allem eines gemein haben: dass sie auf derselben Plattform, CNN, ausgespielt wird. Die amerikanische Öffentlichkeit scheint ein mediales Rache-Spektakel einzufordern.

Warum? Warum der Angriff auf Amerika? Warum die vermeintliche Unausweichlichkeit einer militärischen Reaktion? In der frenetischen Suche nach der Herkunft der Täter und ihrer Verbündeten wurden in den Medien diese Fragen kaum erörtert. Tage nach dem Anschlag hieß es im amerikanischen Fernsehen, es wäre falsch, die Terroristen als Fanatiker abzutun: Damit unterschätze man den Gegner. Dass es sich bei dem Terroranschlag um ein Teilereignis eines langfristigen Prozesses handeln könnte, wurde hingegen kaum diskutiert.

“Dies ist der Dritte Weltkrieg”

Ob der Teilsieg der Terroristen und ihrer Hintermänner zu ihrem Triumph führen wird, ist noch keine abgemachte Sache. Doch die Saat zukünftiger Gewalt ist gelegt. Die Übergriffe in den Vereinigten Staaten auf Menschen orientalischer Abstammung, die sich in der explosiven ethnischen Gemengelage jederzeit zum Mikrokrieg von Nachbarn gegen Nachbarn ausweiten können, demonstrieren: dass das Teufelswerk der Todesflieger in den Köpfen der Menschen weitertickt.

George W. Bushs Bemerkung am Tag nach dem Attentat lässt das Schlimmste erwarten: “Diese Schlacht wird Zeit und Entschlossenheit erfordern”, erklärte der völlig aufgelöste Präsident vor laufenden Kameras. “Aber lasst euch nicht täuschen”, so Bush weiter, “wir werden siegen.” So verständlich die Worte im Anschluss an die Schock-Ereignisse sind, so sehr offenbart sich darin eine Fehlinterpretation der Lage. Denn eines ist sicher: dass die Amerikaner und mit ihnen die Welt am 11. September eine fürchterliche, nicht revidierbare Niederlage erlitten haben.

“Dies ist der Dritte Weltkrieg”, glaubte Thomas L. Friedman daraufhin in der “New York Times” erklären zu müssen. Dies aber ist eben nicht der Fall. Denn dieser “Krieg” ist ein Nicht-Krieg, wenngleich auf andere Weise als die Simulationstheoretiker meinten, als sie über den Golfkrieg philosophierten: Die Gewalt ist höchst real und macht durch ihre mediale Übertragung selbst vermeintlich unbeteiligte Menschen zu Kombattanten. Doch es ist ein Konflikt mit einem flüchtigen Feind, einem virtuellen Gegner, der mit seinem Auftauchen wieder verschwindet. “Bisher haben wir auf Angriffe mit Vergeltungsschlägen geantwortet”, schrieb Henry Kissinger in der “Washington Post”. Nun jedoch, da das Territorium Amerikas angegriffen worden war, müsse ein direkter Schlag auf das gegnerische System erfolgen. Nicht die Vergeltung der Bluttat, sondern die Vernichtung des Gegners wurde zum erklärten Ziel der amerikanischen Regierung. Im Kampf gegen die Phantome des medial potenzierten Nicht-Kriegs versagen die Modelle klassischer Realpolitik.

Mit der militärischen erfolgt die mediale Mobilmachung: Von Wiederholung zu Wiederholung verfeinert, erfuhren die Bilder, die den Anschlag auf die Wohnzimmer der Welt geführt hatten, in den Tagen darauf einen grundlegenden Bedeutungswandel. Unterlegt mit Monumentalmusik, kombiniert mit Aufnahmen trauernder Überlebender, jubelnder Palästinenser und eines Präsidenten, der auf den qualmenden Schutthügeln New Yorks stand, erschienen sie wie ein Ruf zu den Waffen. “Wir werden nicht zulassen, dass er seine Ziele erreicht”, erklärte Vizepräsident Dick Cheney im Sender NBC. Gemeint waren die vermuteten Ziele des vermeintlichen Mastermind hinter den Anschlägen, ein Phantom namens Usama Bin Ladin. Man bereite sich auf einen langwierigen Feldzug gegen den Feind vor. Doch welcher Feind?

Dem virtuellen Unternehmen der “New Economy” entspricht die virtuelle Terror-Organisation der von George Bush senior so bezeichneten “New World Order”. Dieser Gegner ist an keinen geographischen Ort gebunden. Er agiert aus dem Verborgenen heraus und folgt dem Prinzip der Vernetzung. Er hat sich eine flache, hierarchielose Struktur geschaffen. Er kompensiert die Knappheit an Ressourcen und Personal mit der geschickten Instrumentalisierung technologischer Systeme. Und er löst violente, ja epidemische, Kettenreaktionen aus. Diesem Gegner, der sich der Mittel einer delokalisierten, medial amplifizierten Gewalt bedient, ist weder mit biblischer Rache noch mit simplistischen Freund-Feind-Schemata, schon gar nicht mit den Kategorien “Sieg” und “Niederlage” beizukommen. Wer dies nicht erkennt, fordert weiteres Unheil heraus.

Thomas Schuster, Phantom des Terrors. Die Gewalt im Zeitalter ihrer medialen Potenzierbarkeit. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.9.2001.

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