Steter Tropfen höhlt die Aktie

von Thomas Schuster

Im Instrumentarium der Folterwerkzeuge gilt das Wasser als besonders grausames Mittel. Die Wasserfolter hinterlässt kaum physische Spuren, sie schlägt dafür um so direkter auf die Psyche des Misshandelten durch. Eine alte chinesische Methode gilt als besonders infam: Eine kleine Stelle am Kopf des Opfers wird kahlgeschoren und unter einem Wasser-Behälter platziert. Alle dreißig Sekunden fällt ein Tropfen auf das Haupt des Gequälten, der im Verlauf der Prozedur wahnsinnig wird und stirbt.

Der Schrecken ergibt sich aus der Verbindung zwischen sensorischer Depravation und dem Takt der Tortur. Auf bloße halluzinatorische Einbildungen dürften so manche Privat-Anleger hoffen, wenn sie dieser Tage einen Blick auf ihre Aktiendepots wagen. Doch der Schrecken ist real: Seit Monaten tropft die Börse im monotonen Takt von einem Tief zum nächsten, ohne dass ein Ende der Folter abzusehen wäre. Dies deckt sich so gar nicht mit den Versprechungen, welche die breite Masse an die Finanzmärkte lockte: Vom mühelosen Reichtum war die Rede, vom schnellen Geld und dem vermeintlich endlosen Börsenboom. Die neuen Anleger-Magazine und das Wirtschaftsfernsehen hatten die frohe Kunde von der magischen Kapitalvermehrung unters Volk gestreut.

Nach einem rasanten Kursanstieg im Frühjahr war vielen wichtigen internationalen Aktienindices die Unterstützung weggerutscht. Der Dax, der Neue Markt und die Nasdaq hatten bis zu vierzig Prozent ihres Wertes eingebüßt. Nach einer kurzen Erholung während des Sommers ging es erneut bergab. Im September, der den Ruf des chronisch schlechtesten Börsenmonats des Jahres genießt, sogar noch beschleunigt: Allein die amerikanische Technologiebörse Nasdaq verlor innerhalb von vier Wochen mehr als zwölf Prozent, der schlechteste September in zwanzig Jahren. Der Nemax All Share büßte sogar vierzehn Prozent ein. Doch den Optimismus der Anlegermagazine schien nichts bremsen zu können.

Hauptsache, wir haben Spaß

“An der Nasdaq stehen die Zeichen auf Sturm. Der Dax sinkt. Interessante Aktien finden sich dennoch”, schreibt “Focus Money” am 21. September. Der Dax büßte in derselben Woche vier Prozent ein. Steigende Zinsen und galoppierende Ölpreise hatten zu internationaler Verunsicherung geführt. Die Münchner Redaktion ficht dies nicht an: “Der Neue Markt blieb bisher von der Zins- und Ölhausse noch relativ unbeeindruckt”, so die journalistischen Finanzberater. Der Nemax 50 hatte in wenigen Tagen zehn Prozent verloren.

Etwas nüchterner gab sich “Börse Online” in derselben Woche: “Ob Dax, Dow Jones oder Euro Stoxx, nahezu alle etablierten Börsen vermitteln technisch einen schlechten Eindruck”, wird die Börsenlage adäquat beschrieben. Die Redakteure machen kein Hehl daraus, dass die Finanzmärkte unter großen Belastungen leiden. Entmutigen lässt man sich deswegen nicht. “Internationale Auto-Aktien. Vollgas, 6 Renner für Ihr Depot”, verspricht der Titel des Hefts in einer Phase heftiger Ölpreisturbulenzen und ohne auf diese auch nur ein Wort zu verschwenden. Um auf Nummer Sicher zu gehen, empfiehlt die Redaktion Put-Optionsscheine, selbst für konservative Depots, damit könnten sich die Anleger “gelassen zurücklehnen und abwarten”. Diese Papiere, so die Anlageexperten, funktionierten wie Versicherungen: Schlimmstenfalls drohe nur der Verfall der Prämie. Gemeint ist ein Totalverlust des Einsatzes.

“Der Aktionär” ließ sich von den Turbulenzen nicht beeindrucken. Der Markteinbruch wird als “Korrektur” abgehakt, der Schwerpunkt des Heftes liegt auf der Darstellung kaufenswerter Aktien und ausgiebiger Eigen-Werbung. Von den 76 im “Chart-Check” vorgestellten Aktien werden fünfzehn als Halteposition, 56 als “aussichtsreich” und fünf als “sehr erfolgversprechend” eingestuft. So einfach kann Börse sein. Die Zeitschrift “Aktien Research” sah die Lage ähnlich entspannt. Gemäß dem Motto des Magazins, “Profianalysen für Privatanleger” zu liefern, beschränkt man sich darauf, Analystenmeinungen zu referieren, und nimmt der Redaktion damit die Bürde, durch eigene Einschätzungen Kompetenz beweisen zu müssen. Die entscheidende makroökonomische Verfassung der Finanzmärkte wird fast völlig ignoriert.

Auch “Die Telebörse” hat Wichtigeres im Sinn, als sich um den realen Zustand der Finanzmärkte zu kümmern. Zwar liefert sie zu jenem Zeitpunkt noch das differenzierteste Bild der Börse, doch die Interpretation der Nachrichten gehorcht auch hier dem Prinzip Hoffnung. Nach dem Hinweis auf den labilen Zustand der Aktienindices folgt zwanghaft die positive Nachricht: “Der Aktienkorb der Nasdaq bietet… trotz Zitterkursen genügend Chancen für einen heißen Herbst.” Umrahmt wird die frohe Botschaft von einer Titelgeschichte, die dem Leser “1 Million für Sie” verspricht, der Ankündigung eines Börsenspiels für Investmentclubs: “Gemeinsam wollen wir Sie auffordern, gemeinsam Geld anzulegen und kollektiven Spaß an der Wertpapieranlage zu entwickeln.” In der Amüsiergesellschaft ist auch die Börsengemeinde ein großes Spaßkollektiv. Die Finanzmärkte sind in der Dauerflaute, doch die Börsenmedien werden nicht müde, den Spaßfaktor des Aktienhandels zu betonen. Egal ob man kauft oder verkauft, Hauptsache, es rührt sich etwas. Börse ist Poker, Roulette oder Achterbahn.

Die Botschaft vom Reichtum für alle spiegelt sich schon im Wortschatz der Wirtschaftsjournalisten. “Aussichtsreiche” Investments allerorten, “Schnäppchen”, wohin das Auge blickt. “Clevere” Anleger müssen deswegen nur “rechtzeitig einsteigen”, denn “große Chancen” werden ihre Aktien “beflügeln” und “mit Sicherheit”, ja “garantiert”, zu “Profiten” führen. “Kein Grund zur Sorge” also, wenn es einmal abwärtsgeht. Eine “Korrektur”, so die Beschönigung für abrupte Kurseinbrüche, ist gewiss nur eine “Kaufchance”, denn der nächste “Kursschub” führt bestimmt zur “Kursexplosion”. “Reich im Schlaf” lautet die Verheißung vieler Börsenmedien.

Kaufen, kaufen, kaufen

Pünktlich zum Tiefstand der internationalen Aktienindices ist jetzt auch der “Spiegel” auf die Schieflage aufmerksam geworden. Seitenlang erklärt uns die aktuelle Ausgabe unter dem Titel “Raff und Renn”, dass viele Aktien der New Economy hoffnungslos überbewertet waren. Banken, Analysten und Börsengurus, betrügerische Finanzmanipulierer und geldgierige Firmenchefs hätten sich auf Kosten des kleinen Mannes bereichert, indem sie einen Mythos vom Reichwerden ohne Arbeit inszenierten. Klitschen seien zu Börsengiganten aufgeblasen worden, um Privatanleger abzukassieren. Pressemeldungen seien von zahlreichen Unternehmen systematisch zur Kursmanipulation missbraucht worden (siehe dazu F.A.Z. vom 19. September).

Die Schlüsselrolle der Medien in der Inszenierung des Börsen-Hypes bleibt in dem “Spiegel”-Artikel jedoch merkwürdig unergründet. Denn auch in dem Hamburger Magazin nahmen Geschichten über Finanz- und Anlagethemen, Start-up-Firmen und die Protagonisten des Börsen- und Internet-Booms breiten Raum ein. Mit dieser publizistischen Trendforschung sollte die Leserschaft verjüngt und dem Publikum ein indirekter Nutzwert verschafft werden. “Wir wollen auf Missstände aufmerksam machen und die gesellschaftlichen Konsequenzen wirtschaftlicher Trends aufzeigen”, so Armin Mahler, Chef der Wirtschaftsredaktion des “Spiegel”. Bisweilen ging es zwar noch kritisch zur Sache: Zum ekstatischen Höhepunkt des kollektiven Aktienwahns im Frühjahr 2000 lieferte das Magazin ein beklemmendes Bild der Stimmungslage der Nation. Doch auch der “Spiegel” stimmte regelmäßig in den Chor der New-Economy-Euphoriker ein. Beinahe im Wochentakt hefteten sich die Hamburger Szene-Scouts den flotten Software-Gründern auf die Fersen. “Erst Powern, dann Party”, lautet ein typischer Titel der Trend-Auguren (31. Juli). Dass der “Spiegel” den New-Economy-Zug zunächst verschlafen hatte und anschließend dem Trend hinterherschrieb, fällt angesichts soviel nachträglicher Überkompensation fast nicht mehr auf. Wie sich nun herausstellt, war die Message etwas zu optimistisch.

Für die Börsenmedien aber ist jeder Börsentag ein guter Börsentag: Geht es an den Märkten bergauf, freut man sich über die Gewinne und mahnt, endlich einzusteigen, bevor die Party vorüber ist. Geht es bergab, freut man sich über die Kursverluste und mahnt, endlich einzusteigen, solange die Preise so günstig sind. Viele der journalistischen Finanzberater animieren die Anleger gezielt zum Spielen, etwa mit hochspekulativen Optionsscheinen: Es ist statistisch erwiesen, dass bei Optionsscheinen in der überwiegenden Zahl der Fälle die Stillhalter gewinnen, die Käufer jedoch um ihren Einsatz kommen. Die Käufer verlieren bis zu achtzig Prozent, schätzt Manfred Gburek, der bei der Zeitschrift “Die Telebörse” für den “Geldtest” zuständig ist. Dennoch wird es in praktisch allen Wirtschaftsmedien so dargestellt, als hätten Privatanleger eine realistische Chance, auf der Gewinnerseite zu stehen. So zum Beispiel in dem Werbespruch von “n-tv”, mit welchem dem Publikum der Handel mit den Verlierer-Scheinen schmackhaft gemacht wird: “Geschäfte mit Optionen. Auch in unsicheren Zeiten immer auf der richtigen Seite.”

Wie zielsicher solche Strategien in den Ruin führen, bewies “Focus Money” am 21. September: In einem Text mit dem Titel “Vorne mitspielen” werden die vermeintlichen Vorzüge sogenannter Call-Optionen dargelegt. Mit diesen Scheinen, so die Münchner, ließe sich “die meiste Zeit gut verdienen”, da sie bei steigenden Aktienkursen zu Gewinnen führen und die Erfahrung lehre, “dass Aktien meist Schritt für Schritt steigen”. Als Service werden dem geneigten Leser fünf Calls vorgestellt: “Vernünftige Preise und ein nicht zu hohes Aufgeld garantieren den Erfolg”, verspricht “Focus Money”. Wie seriös solche Erfolgsgarantien wirklich sind, beweist folgende Rechnung: Ein zu gleichen Teilen gewichtetes Portfolio aus den fünf empfohlenen Scheinen hätte in drei Wochen einen Verlust von 35 Prozent eingefahren (Stichtag: 12. Oktober).

Fahrlässiger geht es nicht

Doch die Anzeichen häufen sich, dass die Privatanleger den Versprechungen der Börsenmedien nicht mehr trauen. Die Einschaltquote des Fernsehkanals “n-tv” hat sich von März bis Juli annähernd halbiert. Und auch die Anlegermagazine leiden unter rapidem Publikumsschwund: “Börse Online”, das Flaggschiff der deutschen Finanzzeitschriften, setzte, nach einem Hoch im Frühjahr bei knapp 390 000 Exemplaren, im August nur noch 250 000 Hefte ab. Laut Gruner + Jahr stagniert die Auflage derzeit auf diesem Niveau. Der Mehrzahl der Börsenblätter geht es nicht besser. Ihre Auflagen tröpfeln, wie der Neue Markt und die Nasdaq, um ihre Jahrestiefs.

Die neuen Anlegermedien scheinen gefangen in einer selbstgesteckten Zwickmühle, ihnen misslingt die Gratwanderung zwischen dem Versprechen der Seriosität und der Verlockung des Effekts. Der Wirtschaftsjournalismus, so ein aktuelles Handbuch, habe seine Lektionen gelernt. Er “macht dem Medienpublikum immer vielfältigere Angebote und nutzt das wachsende Interesse der Bevölkerung an der ökonomischen Absicherung und Gestaltung ihrer Existenz”. Völlig richtig: Der Anlegerjournalismus hat seine Techniken zur gezielten Steuerung der Aufmerksamkeit des Publikums verfeinert. Er nutzt das wachsende und legitime Interesse der Menschen an ihrer ökonomischen Zukunft. Und immer öfter nutzt er es aus.

Thomas Schuster, Steter Tropfen höhlt die Aktie. Von “Focus Money” bis “Spiegel”: Wie Magazine Anleger betäuben. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2000.

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